Hans Furer im Gespräch mit Claudia Jolles (Chefredaktorin des Kunstbulletins)
Claudia Jolles: Ein Ordner voller Zeichnungen – wie hast du die ausgewählt? Hans Furer: In diesem Ordner sind zwei Zeichnungen pro Jahr enthalten, seit ich 17 war. Am Anfang sind nur Köpfe entstanden. Bei diesem hier war ich 18 Jahre alt (Abb. 1), hier 42 (Abb. 2). Jede Zeichnung ist genau datiert. Das gehört ebenso dazu wie die Unterschrift und der Titel. Bei den Bildern ist es genauso. Diese Zeichnung ist eine Erinnerung an New York. Die Leute skandierten auf der Straße: »Pope Paul two – we love you!« (Abb. 3). Oder diese Zeichnung mit dem Titel Der Rhein, sie entstand, nachdem wir vom Rheinweg aufs Bruderholz umgezogen waren. Ich besaß noch einen Stempel mit der alten Adresse »Unterer Rheinweg 96, 4057 Basel« (Abb. 4) – eine Erinnerung.
Sind das vorbereitende Skizzen für Bilder oder einfach Zeichnungen per se? Nein, Zeichnungen bilden höchstens den Vorstellungshintergrund für ein Bild. Es kann aus einer Zeichnung ein Bild entstehen, doch das muss nicht sein. Ich erläutere dies an einer Serie von sechs Bildern, die Kalifornien heißt (siehe wvz 2011/11- 14 und wvz 2012/1–3). 1987 hatten meine Frau und ich eine Reise nach Kalifornien unternommen. Auf jedem der sechs Bilder ist ein gemalter Kopf sichtbar. Der Kopf entspricht je einer Zeichnung, die früher entstanden ist (Abb. 5–10). Sie dienten also als Vorbild. Jede Zeichnung hat zur anderen Zeichnung einen zeitlichen Abstand von fünf Jahren. Mit diesem Konzept sind auf dem Bild verschiedene zeitliche Fixpunkte erlebbar: das Datum der Zeichnung, die Reise nach Kalifornien (1987), die Entstehung der Bildserie (2011/12) und die Gegenwart, in welcher der Betrachter das Bild wahrnimmt. Diese Erklärung lässt erahnen, was ich mit der Aussage meine, dass Zeit und »Zeit erleben « eines meiner Themen sind.
Was erfährst du durch die Gegenüberstellung von Motiven aus unterschiedlichen Zeiten? Erscheinen dir die Erfahrungen in einem neuen Licht, wenn du dir das Erlebte nochmals vor Augen führst? Wir gehören einer Generation an, die die eigene Lebenszeit bewusster reflektiert als manch frühere Generationen und die diese auch gestalten kann. Viele – aber längst nicht alle! – Jugendlichen haben heute eine Perspektive und viel Freiheit in Bezug auf Lebensoptionen. Viele Generationen vor uns haben dies nicht gehabt. Die Medizin ist weit fortgeschritten. Im Mittelalter war man froh, wenn man ein hohes Lebensalter erreichte. Oder als die Pest kam ... Der erste Gedanke war sicherlich, einfach irgendwie zu überleben. Häufig beobachtet man wie ein Außenstehender, wie das eigene Leben abläuft, und das ist neu: Heute hat man mehr Möglichkeiten, darauf Einfluss zu nehmen. Auf einer Zeitachse zu beobachten, wie verändert sich der Mensch im Laufe der Zeit: Das ist spannend und existentiell.
Wie haben sich deine Köpfe verändert? Das sind nie konkrete Köpfe gewesen. Es ist ein Typus. Alexej von Jawlensky hat Zeit seines Lebens größtenteils Köpfe gemalt. Dennoch kann man nicht sagen, das Kopfthema sei abgehakt. Jede Generation muss sich ihre Bildvorstellungen selbst erarbeiten und entwickeln. Bei mir schwingt der Einfluss von Edvard Munchs existenziellem Werk mit. Das ist ein Künstler, auf den ich mich berufe – wie auch auf den deutschen Expressionismus. Heute stehe ich woanders. Nehmen wir die Zeichnung Direktor (Abb. 11). Wir sehen das Klischee eines Direktors mit dickem Kopf, die Arme sind nicht wichtig, dafür der ihn einhüllende Rauch. Bei einer anderen Zeichnung schwebt eine Hand über dem Kopf und die Augenlider sind zu Händen geworden (Abb. 12). Da stellt sich die Assoziation ein, dass, wenn du aus den Augenlidern Hände machst, aus dem Kopf auch eine Hand herauswachsen kann. Bilder entstehen durch Assoziationen. Diese Zeichnung (Abb. 13) diente unmittelbar als Vorlage für ein Gemälde, nur hat sich im gemalten Bild der Hintergrund verändert. Der Fernseher hat tausend Punkte, ich habe sie gezählt.
Wieso? Ich weiß auch nicht. Im vordigitalen Fernsehen gab es das Punkteraster, PAL. Als ich das Bild malte, habe ich mich an das PAL-System zurückerinnert. So sind die tausend Punkte entstanden (wvz 1999/14).
Das Rot-Grün wirkt ja sehr expressionistisch. Der Expressionismus war für mich früher ein wesentlicher Orientierungspunkt.
Bei Jawlensky hat man das Gefühl, er male seinen eigenen Kopf, dich würde ich hingegen eher in der Figur, als im Kopf erkennen. Das ist richtig! Die Figur erinnert etwas an die Figuren des deutschen Malers A.R. Penck, aber die Absicht resp. Bedeutung ist eine völlig andere. Die Figur bin ich, und zugleich ist sie ein anderer – ein Dritter.
Was hat es mit diesen abstrakten roten Bildern auf sich? Seit zwanzig Jahre male ich jedes halbe Jahr ein Bild in Rot (B1–B44). Es ist ein Kadmiumrot, immer derselben Marke. Wie eine Blutfarbe. Dieses Rot zieht sich vom ersten bis zum letzten Bild durch. Die Serie ist auf lebenslang angelegt. Obwohl die einzelnen Bilder gleich zu sein scheinen, weisen sie Unterschiede auf. Es gibt bei jedem Mensch Dinge und Handlungen, die zu seinem Grundvokabular zählen. Man steht auf, duscht sich, geht zur Arbeit etc. Und es gibt Dinge, die sich immer wieder verändern, zum Beispiel die Wohnung, die Einstellung, die Mode. In einem Film über Rémy Zaugg bemerkt die Kunsthistorikerin Theodora Vischer, er komme ja eigentlich von der Malerei her, sei jedoch ein konzeptueller Künstler. Bei mir ist es umgekehrt. Ich bin Maler, mit einem konzeptuellen Ansatz. Das Konzeptuelle spielt bei mir eine große Rolle: Seit 1980 benutze ich ein und das- selbe Leinwandformat. Von 1976 bis 1979 geschah das gleiche mit den Kartons. Selbst On Kawara änderte das Format, bei mir ist es stets gleichgeblieben, und es gibt jeden Monat ein Bild. Du kannst diese vierzig Blutbilder vom Gestell herunterholen, und jedes ist leicht anders, hat eine andere Struktur; beim ersten habe ich Teile mit Weiß vermischt. Das war eine Ausnahme. Die anderen Bilder sind alle nur mit einer Farbe gemalt. Wie wenn ein Bäcker ein Pfünderli [Brotlaib von 1/2 Kilogramm] formt: Sie sind alle gleich und doch verschieden.
Ein wenig wie ein Exerzitium ... ... und eine Meditation. Das tun viele Künster, Gerhard Richter beispielsweise, der seine Farben verstreicht. Es sind ähnliche Bedürfnisse. Robert Ryman hat sich auch auf ein Format, das Quadrat, und auf eine Farbe, Weiß, beschränkt. Er meinte, er liebe zwar Farben, doch der Umgang mit ihnen sei ihm zu kompliziert. Aus der Beschränkung öffnete sich ihm ein großes Experimentierfeld, eine überraschende materielle Vielfalt. Worum geht es dir bei der Beschränkung? Um das Emotionale, um den Zustand, in dem du warst, als du das Bild gemalt hast? Da siehst du zu viel drin. Diese Blutbilder entstehen in maximal einer Stunde. Das Emotionale interessiert mich hier nicht, eher das Existenzielle. Es geht darum, jedes halbe Jahr – immer im Mai und November – ein kleines Gaggeli [Häufchen] zu setzen, ein Lebenszeichen, ein Zeitpünktchen, das sich in Materie verwandelt. Diese Abweichungen haben eine Individualität. Dabei wird klar, wie eintönig ein Leben trotz all der kleinen Variationen sein kann. Meine anderen Bilder sind ganz unterschiedlich. Sie zeigen, wie vielfältig ein Leben auch ist. Unsere Aktionsmöglichkeiten als Menschen sind grundsätzlich beschränkt. Wir können mit unseren fünf Sinnen bestimmte Dinge wahrnehmen, daraus ergibt sich eine relative Vielfalt. Die Wahrheit ist es nicht, doch ist die Grundstruktur »Mensch« so, wie sie ist. Weil mich die »Varianten« mehr interessieren als das Gleichmäßige, hat die sich stets wiederholende Serie der »Blutbilder« quantitativ weniger Präsenz in meinem Werk als andere Bilder. Pro Jahr entstehen nur zwei Blutbilder, von den anderen etwa 15.
Gibt es auch andere, über längere Zeit erarbeitete Serien? Auch wenn ich früher meist Einzelbilder gemalt habe, entstanden immer wieder Serien. Neben »Blutbilder« von 1992 begann ich insbesondere ab 2003, Serien zu malen. Bei drei bis sechs Bildern pro Serie verdichten sich die inneren Bilder. Zwischen dem inneren Bild und dem, welches du real schaffst, besteht eine Differenz, oft eine große. Die Herausforderungen beginnen dann, wenn du einen Pinsel in der Hand hältst. Aber es werden doch viele Entscheidungen im Voraus gefällt. Das Format, der Rahmen, das setzt jedem Motiv bestimmte Grenzen. Es gibt Motive, die eine Eigendynamik entwickeln. Bei deinen Bildern hat man nie das Gefühl, das Motiv entziehe sich, wie bei Degas, dessen Figuren oft die Bildfläche zu sprengen scheinen oder über sie hinausführen. Das ist nicht mein Thema. Ich sehe mich eher in einem Bezug zu Ryman. Diese Beschränkung der Fragestellung interessiert mich. 1986 gab es ein Bild im Format 2 x 1,5 m (wvz 1986/5). Ich hatte damals eine Krise. Die Beschränkung auf ein Format hat mich traurig gemacht. Ich habe dann dieses große Bild mit Delfinen als Befreiung malen wollen und war dabei mit malerischen Fragestellungen konfrontiert, die mich nur am Rande interessierten, beispielsweise: Wie muss der Farbauftrag sein, damit das Bild Wirkung erzielt? Als Produzent musst du dies berücksichtigen, so wie Stephan Balkenhol, der eine große Skulptur schafft und bedenken muss, wie diese, von unten betrachtet, aussehen wird. Es fließen Entscheidungen ein, die mich wenig beschäftigen. Erst beim Malen dieses Bildes ist mir das bewusst geworden – eine Erfahrung eben. Cuno Amiet hat mit über neunzig ein Selbstbildnis in kleinen grünen Tüpfchen gemalt: Einen Kopf, Grün in Grün in der Landschaft, und man hat das Gefühl, der Mensch Amiet sei im Begriff zu entschwinden. Wie werde ich mit sechzig, siebzig, achtzig malen? Häufig interessiert man sich nicht für die reine Tatsache, dass das Leben vorbeigeht, sondern man interessiert sich für Veränderungen, den Gestaltungsspielraum, Bewusstseinsprozesse. Welche Rolle spielen die Bilder dabei, beispielsweise diejenigen mit den Postkarten? Die Serie heißt Beschleunigung. Im ersten Bild gibt es Postkarten aus sechs, im zweiten aus acht, im dritten aus zehn, dann aus elf Jahren. Wenn du zwanzig bist, kannst du die Beschleunigung der Zeit nicht darstellen, das spürst du so gar nicht. Das ist erst im Alter möglich. Da ist ein Bewusstsein für diese Frage vorhanden (wvz 2012/4–8). Wie lässt sich das Zeitgefühl in diesem Bild mit dem Mann auf dem Schiff ablesen? Er steht auf einem Segelboot – es ist das letzte Bild der Serie –, er ist im Begriff, aus dem Bild zu segeln, in eine andere Welt ... eigentlich ein Todesbild. Es gibt auch spielerische Elemente, wenn du im Leben zum Beispiel – im übertragenen Sinne – den Handstand machen musst. Das erfordert besonderes Geschick und Anstrengung. Im Bild mit den vielen sich überlagernden Köpfen geht es eher um das Soziale. Briefe und Karten haben mit dem Sozialen zu tun. Hier hingegen sieht man nur die Füße. Dass man nie das Ganze sieht, hat einen symbolischen Wert. Und diese Drippings (wvz 2012/6)? Ich wollte einen Teppich malen, doch dann ließ ich es. Die Frage ist, wann beendest du ein Bild. Meistens malst du zu viel.
Wie lange hast du an diesen Bildern gearbeitet? Einen Tag. Doch ich bereite mich darauf vor, wie wenn ich an den Start des Grand Prix von Bern [Volkslauf über 10 Meilen] gehe. Ich bin bereit, trainiert und adrenalingeladen. So auch hier: Ich höre kein Radio, habe keine Kaffemaschine im Atelier und ertrage selbst die absolute Ruhe.
Dein erstes Leinwandbild von 1980 heißt Einsamer Mensch in einer Parkanlage. Das Bild ist schon wesentlich anders als die heutigen Bilder. Doch ich empfinde das Malen nicht als Entwicklung, sondern als Abrollen eines Zeitteppichs. 1980 hätte ich kein Bild wie dieses malen können (wvz 2012/8), das waren andere Themen, ein anderes Umfeld, andere Wahrnehmungen, ein anderes inneres Empfinden ... Dennoch: Als Künstler musst du mehr reflektieren, als du es normalerweise im Alltag tun würdest. Du kannst nicht einfach dich selbst ausdrücken und denken, das sei kreativ, du musst ein Ziel verfolgen. Du orientierst dich auch an künstlerischen Vorbildern. Die einen gehen in den Louvre und malen Kopien, andere setzen sich mit Kunsttheorie auseinander. Heute ist die Kunstgeschichte umfassend aufgearbeitet, besonders des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Erscheinungsformen und die Manifestationen der Kunst sind massiv erweitert worden. Eine eigene Bildsprache zu entwickeln – in welchem Medium auch immer – ist ein geistiger Prozess, sehr anspruchsvoll, zum Teil schmerzhaft, weil man sich verirren kann. Um meine Entwicklung nachvollziehen zu können, habe ich mit 17 Jahren begonnen, alles zu datieren (zuerst nach Jahr, dann nach Tag, Monat und Jahr) und nichts fortzuwerfen –, auch wenn es sogenannte »schlechte« Bilder sind. Das war eine instinktive Entscheidung. Wenn du Karten oder Papierschnipsel verwendest, sind sie regelmäßig in ein malerisches Ambiente eingebunden. Ilya Kabakovs Collagen mit Postkarten oder kleinen Abfallstücken sind anonym und intim. Sie spiegeln den Dialog eines einsamen Mannes mit einer Fliege an der Wand oder einem Nagel auf dem Fußboden. Jedes Objekt erzählt eine Geschichte. Bei dir geht es um eine Ordnung, doch die Kompositionen wirken auch immer in einem gewissen Sinne beschwingt. Der Mann auf der Welle hat zehn Karten, doch man hat nicht das Gefühl, er werde von der Masse erdrückt oder sei deprimiert, weil es pro Jahr nur eine Karte ist (wvz 2012/8). Es ist zwar wie bei Kabakov auch alles Abfall, nur ist es mein persönlicher Abfall. Ich führe nicht einen Dialog mit der toten Fliege, sondern mit meinem eigenen Abfall. Dabei wird die Belastung des materiellen Besitzes bewusst und die Tatsache, dass du der Einzige bist, der sich für den Dialog mit diesem Abfall interessiert, früher oder später wird alles in den Müllcontainer geschmissen. So verschwinden Spuren. Das relativiert die Bedeutung eines jeden Menschenlebens und fordert Bescheidenheit ein. Karl Popper hat gesagt – und deshalb male ich –, in der Kunst gibt es nur eine Erfahrung, die du weitergeben kannst, und das ist deine eigene, ganz persönliche.
Weshalb malst du diese Rahmen in deinen Bildern? Ich bin nicht Teil des Bildes. Indem ich es rahme, schaffe ich eine Distanz, setze ein Zeichen, es ist ein Bild im Bild, auf einem künstlichen Träger. Dadurch erhält es eine andere Realität. Es erinnert mich an Alberto Giacometti, der oft einen Rahmen ins Bild malte, um ein Sujet räumlich zu verorten. Bei einigen deiner Bilder frage ich mich, wie es wäre, wenn sie keinen Rahmen hätten. Ich habe einige Bilder gemalt, die bis zum Rand gingen. Die fand ich schrecklich – Begründung habe ich keine. Ich brauche einen Zwischenschritt, eine wenig hohe Treppenstufe, um in das Bild einzusteigen, und das ist der weiße Rand. Es ist mir sonst alles zu nah. Ich habe auszuprobieren begonnen, wie breit dieser Rahmen im Bild sein muss, und bin im Laufe der Zeit darauf gekommen, dass 10 cm richtig sind. Aber das war ein jahrelanges Raten – ein Austüfteln!
Es gibt Künstler, die ständig mit dem Format ringen, so greift Christine Streulis Malerei vom Bild auf den Rahmen auf die Wand, es ist ein ständiges Ausweiten der Bildfläche. Die Fragestellung »wo endet das Bild, wo Vorstellung und Realität?« würde mich nur im existenziellen Sinne interessieren: Was bedeutet die raumgreifende Bildgestaltung für das Leben im übertragenen Sinne? Was gibt es für Möglichkeiten, Vorstellungen – das Bild – und reale Welt – das Außerhalb des Bildes – miteinander zu verbinden? Solche Fragen kann man unterschiedlich angehen, wie das Beispiel von Christine Streuli zeigt.
Ich selbst ringe als Redakteurin oft mit dem Format, denke häufig, ein Text hätte jetzt vielleicht doch etwas mehr Raum benötigt. Man kann nicht jeden Gedanken in derselben Länge zum Ausdruck bringen. Es gibt Inhalte, die ihre eigene Textform fordern. Ist das für dich nie ein Thema gewesen? On Kawara, der seit 1966 Datumsbilder malt, fragte sich dies vielleicht auch einmal. Seine Lösung: Alle Bilder sind gleich (tragen ein Datum) und doch verschieden (bezüglich des konkreten Datums, des Formats und der Farbe). Das kommt meiner Vorstellung vom Leben nahe. Als ich 1980 mit dem Format 1 x 1 m angefangen habe, war dies eine Entscheidung. Wenn man sich ständig mit formalen Fragen auseinandersetzt, dann verliert man den Blick fürs Kerngeschäft. Mein Kerngeschäft ist das Existenzielle.
Kannst du dies anhand dieses Bildes etwas präziser beschreiben? Ich malte einmal ein Bild der New Yorker Twintowers nach einem Foto, das ich selbst gemacht hatte (wvz 2004/11). Daneben habe ich ein Bild von Delphi gestellt, 1978 aufgenommen. Delphi ist untergegangen. Die Twintowers auf tragische Weise auch. Diese beiden Bilder führen zur Assoziation der Vergänglichkeit. Alles geht unter, selbst Werke von Holbein werden irgendwann zerstört sein. Dennoch könnte ich nie ein Bild von einem Flugzeug malen, das in einen Tower rast. Ich habe das nur aus der Konserve heraus erlebt, dem Fernsehen. Ich brauche das eigene Erleben.
Und dieses Bild von Indonesien? Meine Frau und ich waren 1985 auf unserer Hochzeitsreise in Indonesien. Während des Flugs fotografierte ich durchs Fenster den Flugzeugmotor. Das Bild hat zwar links und rechts den üblichen 10 cm breiten Rand, doch oben und unten einen ganz anderen. Das hat damit zu tun, dass ich nach einem Dia malte und erstmals mit einem Diaprojektor arbeitete. Die auf eine Leinwand projizierten Bilder zu malen, war eine Herausforderung, denn das Dia lässt sich gar nicht malen. Wenn du die Farben mit dem Pinsel nachmalst, dann weißt du nicht, wie diese wirken, wenn du den Projektor ausstellst. Ich frage mich, wie Franz Gertsch malt. Der Farbton lässt sich nicht kontrollieren, denn die Farbe sieht immer ähnlich aus wie auf dem Dia, solange Licht darauf fällt. Irgendwann musst du das Dia ausschalten, »auf Sicht« ergänzen. Meine Absicht war zunächst, das Bild auf 80 x 80 cm zu ergänzen, mit einer Farbe (z.B. Blau), doch ich dachte dann, nein, das muss jetzt so sein. Das sind wichtige künstlerische Entscheidungen, die nur aus dem Prozess heraus getroffen werden können, nie im Voraus.
Es wirkt weniger fiktiv als die quadratischen Bilder, es weckt sofort Assoziationen an eine Landschaft. Da kommt das Konservative, das man früher an Schulen gelernt hat, voll zum Tragen: Porträt gleich Hochformat, Landschaft gleich Querformat. Dies entspricht auch unserem Blickfeld. Deshalb ist das Format 80 x 80 cm sehr speziell, es widerspricht unserer Sehgewohnheit. Was löst diese Serie von Indonesien bei dir aus, was ist der Mehrwert? Es war eine technische Herausforderung, etwas nach einem Dia zu malen. Gleichzeitig ist das Bild eine Brücke zwischen der Reise im Jahre 1985 und dem, was heute ist. Die Zeit ist einer der wesentlichen Faktoren. Es ist schwer, Zeit zu »fühlen«. Schlussendlich geht es um Erkenntnis! Mehrwert ist das falsche Wort, das Existenzielle ist ein Wert an sich. Es gibt viele wiederkehrende Motive: Fisch, Figur – einige kann man gut interpretieren, andere weniger. Für was steht beispielsweise der Fisch (wvz 1987/8)? Häufig sagen Menschen, ich esse kein Fleisch, aber Fisch. Doch auch ein Fisch ist ein Lebewesen, und gleichzeitig ist er ein Symbol für ein Lebewesen. Er besitzt auch eine einfache Form, wie eine Schnecke, die einem leicht aus der Hand fließt und sofort erkennbar ist (z.B. wvz 1990/5). Ich male gerne Fische oder Schnecken, wie ein Kind. Bei mir beginnen Zeichnungen – auch von Schnecken – mit drei, vier Jahren. Du hast von On Kawara gesprochen. Er hat das Weltgeschehen in Form einer Zeitung, mit welcher er die Schachtel auskleidete, einfließen lassen. Seine Biographie lautet beispielsweise 29'200 Tage – seine bisherige Lebensdauer. Es gibt keine Fotos von ihm und keine Interviews. Das Werk ist auch eine Spurensicherung. Bei mir geht es nicht darum, eine Spur zu sichern, die ich hinterlasse, sondern die Existenz zu begreifen. Das ist ein Dialog. Was bedeutet es, am Morgen ins Büro zu gehen? Ich überlege mir, was mache ich da eigentlich? Im Atelier versuche ich auf einer viel philosophischeren Ebene zu begreifen, was ein Mensch überhaupt ist, was ihn ausmacht. Die Weltkugel hat sich aus Materie im All gebildet. Dass du jetzt Claudia Jolles bist und nicht eine Schnecke oder ein Fisch oder überhaupt nichts, das ist doch ein Wunder. Es ist ein Wunder und doch keines, es ist eine Fragestellung. Ich will einen Zugang erhalten zu solchen Fragen. Das Malen ist mein Frage-und-Antwort-Spiel. Welche anderen Serien sind über einen längeren Zeitraum entstanden? Zum Beispiel dieses hier, es ist das erste Bild einer Serie, die H heißt. Das H ist wie eine Zange, bei der irgendetwas dazwischen ist. Doch ich weiß noch nicht, wie die Serie weitergehen wird. Das H heißt Herz, doch es heißt auch Hans. Man erkennt das H nicht auf den ersten Blick, es ist eher ein Vexierbild (wvz 2012/9).
Hier lagerst du viele Schachteln mit Zeichnungen, Malerei, Linoldruck. Deine Mutter hat alles sorgfältig aufgehoben. Sie pflegte einen treuhänderischen Umgang mit der Vergangenheit, da bist du etwas familiär geprägt. Wie steht es mit Kollegenaustausch? Der 2005 verstorbene Schweizer Künstler Rémy Zaugg war der wichtigste Gesprächspartner, den ich je hatte. Wir haben uns über Kunst ausgiebig ausgetauscht. Oft hatte ich Kopfweh vor lauter Anstrengung. Er war mehrmals in meinem Atelier, wir haben vor allem über seine Kunst gesprochen, doch manchmal auch über meine. Er hat mir sogar mein Atelier konzipiert. Ich tausche mich aber auch mit anderen Künstlern oder Freunden wie Thomas Ruff aus, doch der will nicht über Kunst reden, sondern sie machen. Stephan Balkenhol oder Pia Fries sind wichtig. Beim Verband Schweizer Galerien haben sich viele Künstler an mich gewandt, das hat einen guten Dialog ergeben. Ich war dort 15 Jahre lang Sekretär. Doch mit Rémy Zaugg war es besonders intensiv. Diese Intellektualität und Spiritualität haben viel bei mir bewirkt. Ausstellungen habe ich übrigens mit zwei Ausnahmen nie gemacht.
Die Frage ist, welche Resonanz man erwarten darf. Für das Publikum ist es normal, Bilder zu sehen. Doch Bilder zu zeigen, ist für die meisten Künstler Stress. Die Frage ist, wie fest man sich in den Betrieb einklinken will. Mir ist die kommerzielle Unabhängigkeit wichtig. Ich wurde schon gefragt, ob ich ein Bild verkaufen würde, doch das habe ich abgelehnt. Ich habe nur in meiner Frühphase zwei Bilder verkauft und weiß jetzt nicht, wo sie sind. Das beschäftigt mich! Mir ist es wichtig, dass ich das Werk Revue passieren lassen kann. Vieles entwickelt sich bei mir aus der Vergangenheit. Deshalb will ich die Werke um mich haben. Mit dem Werkverzeichnis verändert sich die Situation. Nun habe ich die notwendige Übersicht. Ich weiß, dass ich jetzt bereit bin, Bilder wegzugeben. Vielleicht kann man die Situation mit einer Hundezüchterin vergleichen, die ihre Labradorwelpen an einem guten Ort wissen will ... denn behalten kann man nichts im Leben. |
 Abb. 1 1973 Kopf
 Abb. 2 11.05.1997 Mann mit Brille
 Abb. 3 12.10.1995 John Paul II - we love you
 Abb. 4 15.08.1995 Der Rhein
 2011/12 26.11.2011 Kalifornien 1987 / Erinnerung (1)
 2011/13 10.12.2011 Kalifornien (1987) / Erinnerung (2)
 2011/14 07.01.2011 Kalifornien 1987 / Erinnerung (3)
 2012/1 21.01.12 Kalifornien (1987) / Erinnerung (4)
 2012/2 18.02.12 Kalifornien (1987) / Erinnerung (5)
 2012/3 17.03.12 Kalifornien (1987) / Erinnerung (6)
 Abb. 5 10.04.1986 Ohne Titel
 Abb. 6 25.02.1991 Ohne Titel
 Abb. 7 11.03.1996 Erdenmensch
 Abb. 8 25.09.2001 Portrait
 Abb. 9 14.07.2006 rote Haare
 Abb. 10 23.10.2011 Gesicht
 Abb. 11 29.03.1996 Direktor 1950
 Abb. 12 26.09.1997 Hände
 Abb. 13 08.06.1999 Fernsehen
 1994/14 27.11.1999 1000 Farbpunkte und 10 Farben
 1986/5 Oktober 1986 Das Meeresrauschen im Ohr
 2012/6 10.06.2012 1985 - 1992 / Beschleunigung
 2012/8 26.08.2012 2003 - ?8 / Beschleunigung
 2004/11 09.10.2004 Griechenland Juli 1978 / New York Juni 1978
 2011/3 26.03.2011 Indonesien (4) (1985)
 1987/8 08.06.1987 ein Fisch an der Angel
 1990/5 24.05.1990 Ohne Titel
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